Weekly Wisdom

Wer bin ich?

Persönlichkeitskonzepte: Welche Kategorisierungsmöglichkeiten es in der Psychologie gibt, wie sich diese unterscheiden und wozu das relevant sein kann.

1.903 Wörter / 10 Minuten Lesezeit

von | Apr. 25, 2025

Der Wunsch nach Vereinfachung.

Die Welt ist komplex, der Mensch ist ein komplexes System. Wir Menschen sind nicht in der Lage, die unendlichen vielen Informationen und Inhalte immer wieder aufs Neue einzeln zu verarbeiten und bewerten. Wir brauchen Unterstützung dabei. Kategorisierung und Mustererkennung sind grundlegende kognitive Fähigkeiten, die es uns ermöglichen, die Komplexität und Vielfalt der Welt zu bewältigen und effizient zu handeln. Wir müssen nicht jede einzelne Situation neu bewerten, analysieren und Handlungen darauf ableiten, sondern können auf bewährte Handlungsmuster zurückgreifen.

Kategorisierung und Mustererkennung sind unverzichtbar, weil sie uns ermöglichen, Wissen zu speichern, wiederzuverwenden und auf neue Situationen anzuwenden. Sie strukturieren unsere Wahrnehmung, erleichtern das Lernen, ermöglichen Vorhersagen und sind die Basis für Denken, Handeln und Kommunikation. Ohne diese Fähigkeiten wären wir nicht in der Lage, die Komplexität der Welt zu bewältigen und sinnvoll zu interagieren. 

Der Wunsch nach und die Notwendigkeit der Reduktion der Komplexität ist daher verständlich. Die Welt um uns, die Menschen um uns werden von uns geordnet und zugeordnet.

Seit der Antike wird versucht, Menschen unterschiedlichen Persönlichkeitstypen zuzuordnen und diese auf verschiedenste Arten zu kategorisieren.  Hippokrates beispielsweise (ca. 400 v. Chr.) beschäftigte sich mit der Individualität des Menschen. Er entwickelte die „Viersäftelehre“, nach der die Persönlichkeit durch das Gleichgewicht von vier Körpersäften (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) bestimmt wird. Daraus entstanden die vier klassischen Temperamente: Sanguiniker (heiter, aktiv), Phlegmatiker (passiv, schwerfällig), Melancholiker (traurig, nachdenklich) und Choleriker (reizbar, erregbar).

Seither wurde eine Vielzahl von Persönlichkeitsmodellen kreiert, diese reichen von der antiken Temperamentenlehre des Hippokrates über psychodynamische und typologische Ansätze von Freud und Jung bis hin zu empirisch gestützten Eigenschaftsmodellen wie den Big Five. Während frühe Modelle auf spekulativen Annahmen basierten, stehen heute empirisch überprüfbare, differenzierte und kulturübergreifende Modelle im Vordergrund. Die einzelnen Konzepte unterscheiden sich hinsichtlich Qualität, Wissenschaftlichkeit und auch praktischer Anwendbarkeit stark voneinander. 

Wie oben erwähnt ist das BIG FIVE Modell eines der aktuell einflussreichsten Ansätze zur Kategorisierung von Persönlichkeit. Dieses wurde als Resultat jahrzehntelanger Persönlichkeitsforschung entwickelt  und dessen Faktoren gelten aktuell als die empirisch am besten nachgewiesenen Persönlichkeitsmerkmale. 

Das HEXACO-Modell stellt eine theoretisch und empirisch fundierte Erweiterung der BIG FIVE dar, insbesondere durch die Integration des H-Faktors (Honesty-Humility/Ehrlichkeit-Bescheidenheit). Dieses Element ist eine wichtige Ergänzung des BIG FIVE Modells. Es drückt aus, wie ehrlich, bescheiden, aufrichtig und fair ein Mensch ist – im Gegensatz zu Eigenschaften wie Manipulation, Gier, Arroganz und Ausbeutung. Menschen mit hohem H-Wert sind aufrichtig, bescheiden, wenig materialistisch und vermeiden es, andere auszunutzen. Menschen mit niedrigem H-Wert sind dagegen eher manipulativ, eigennützig, materialistisch und bereit, andere für den eigenen Vorteil auszubeuten.  

Wozu Persönlichkeitsmodelle?

Persönlichkeitsmodelle dienen dazu, die Struktur, Merkmale und Unterschiede der menschlichen Persönlichkeit zu beschreiben und zu erklären. Sie helfen, individuelle Verhaltensweisen, Einstellungen und Präferenzen zu verstehen und zu klassifizieren. Die wichtigsten Ziele und Nutzen von Persönlichkeitsmodellen sind:

  • Verständnis und Erklärung von Unterschieden: Sie ermöglichen es, inter- und intrapersonelle Unterschiede nachvollziehbar zu machen und menschliches Verhalten besser einzuordnen.

  • Selbsterkenntnis und Selbstreflexion: Persönlichkeitsmodelle unterstützen Menschen dabei, sich selbst besser zu verstehen und ihre eigenen Stärken, Schwächen sowie Entwicklungspotenziale zu erkennen.

  • Verbesserung der Kommunikation: Sie erleichtern die Kommunikation und Zusammenarbeit, indem sie helfen, die Verhaltensweisen und Bedürfnisse anderer besser einzuschätzen und darauf einzugehen.

  • Reduktion von Komplexität: Modelle bieten eine strukturierte, vereinfachte Orientierung in der Vielschichtigkeit menschlicher Persönlichkeit, ähnlich einer Landkarte.

  • Förderung von Empathie und Toleranz: Sie schaffen Bewusstsein für die Heterogenität von Menschen und fördern das Verständnis für unterschiedliche Denk- und Verhaltensweisen.

Die Anwendung von Persönlichkeitsmodellen.

Persönlichkeitsmodelle finden in zahlreichen Disziplinen und Anwendungsfeldern Verwendung:

  • Psychologie: Zur wissenschaftlichen Erforschung, Beschreibung und Messung von Persönlichkeitsmerkmalen und deren Einfluss auf Verhalten und Entwicklung.

  • Personalwesen und Management: Bei Personalauswahl, Teamentwicklung, Führungskräfteentwicklung und Mitarbeitermotivation, um die Passung zwischen Person und Aufgabe zu optimieren und Teams effektiver zusammenzustellen.

  • Coaching und Beratung: Coaches und Berater nutzen Persönlichkeitsmodelle, um Klienten bei der Persönlichkeitsentwicklung, Konfliktlösung und Zielerreichung zu unterstützen.

  • Pädagogik und Bildung: Lehrkräfte und Ausbilder setzen Persönlichkeitsmodelle ein, um individuelle Lernbedürfnisse besser zu erkennen und Lernprozesse zu personalisieren.

  • Projektmanagement: Zur Verbesserung der Teamarbeit und Kommunikation, indem die unterschiedlichen Persönlichkeitstypen im Team berücksichtigt werden.

  • Vertrieb und Kundenberatung: Um Kundentypen besser zu verstehen und die Kommunikation sowie das Angebot gezielt anzupassen

Die Herausforderungen der Vereinfachung

Die Risiken bei unreflektierter oder starrer Kategorisierung, gerade im Bereich der menschlichen Persönlichkeit, sollte man jedoch nicht vernachlässigen: Ob im politischen, wirtschaftlichen oder psychologischen Sektor – die zu starke Vereinfachung, Reduktion der Wirklichkeit auf simple Zusammenhänge und das Anbieten von einfachen Antworten auf komplexe Themenstellungen lässt die wesentlichen Erkenntnisse oft weg und bietet kein gutes Modell für die Abbildung der Realität. Zu einfach ist oft ganz einfach falsch. Die Welt lässt sich nun mal nicht in schwarz und weiß einteilen, die Menschheit besteht aus mehr als vier Kategorien. Die individuellen Feinnuancen sind oft die Essenz, die uns ausmacht und besonders macht. 

Konkret, was sind potenzielle Risiken? 

 

  • Stigmatisierung und Stereotypisierung: Menschen können aufgrund ihrer Einteilung in bestimmte Typen oder Merkmalsausprägungen stigmatisiert oder auf bestimmte Eigenschaften reduziert werden. Dies kann zu Vorurteilen, Ausgrenzung oder Fehleinschätzungen führen, besonders wenn Persönlichkeitsmerkmale mit negativen Bewertungen verbunden werden.

  • Selbsterfüllende Prophezeiungen und Einschränkung der Entwicklungsmöglichkeiten: Die Festlegung auf einen bestimmten Typ kann dazu führen, dass sich Menschen selbst und andere nur noch im Rahmen dieser Zuschreibung wahrnehmen und verhalten. Das kann Entwicklungsmöglichkeiten einschränken und die Flexibilität im Denken und Handeln mindern.

  • Vernachlässigung individueller Unterschiede: Kategorisierungen vereinfachen komplexe Persönlichkeitsprofile und können der Vielfalt individueller Ausprägungen nicht gerecht werden. Viele Menschen weisen Mischformen oder Merkmale mehrerer Typen auf, was durch starre Einteilungen übersehen wird.

  • Gefahr der Pathologisierung: Besonders bei der Einteilung von Persönlichkeitsmerkmalen in klinische Kategorien (z.B. Persönlichkeitsstörungen) besteht das Risiko, normale Variationen menschlichen Verhaltens als krankhaft zu interpretieren. Dies kann unnötigen Leidensdruck verursachen oder zu übermäßiger Diagnostik führen.

  • Gefahr von Fehlentscheidungen: In Bereichen wie Personalauswahl, Teamzusammenstellung oder Karriereentwicklung können undifferenzierte Typisierungen zu Benachteiligungen oder ungeeigneten Entscheidungen führen, wenn sie als alleinige Grundlage dienen.

Fazit

Kategorisierung und Muster sind für uns Menschen essenziell, wir würden uns ohne diese nicht in der Welt zurechtfinden und kaum handlungsfähig sein. Wichtig dabei ist, das Bewusstsein für die Verarbeitungsprozesse der menschlichen Psyche zu schärfen, diese reflektiert wahrzunehmen, zu verarbeiten und einzuordnen.  Der individuelle Vielfalt sollte immer genügend Raum gegeben werden.

 

Quellen:

https://bigfive-test.com/de

https://hexaco.org/

K. Lee, M. C. Ashton (2012): The H factor of personality: Why some people are manipulative, self-entitled, materialistic, and exploitive—and why it matters for everyone. Wilfrid Laurier University Press.

 

 

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Kognitive Verzerrungen / Cognitive Bias:

Was man darunter versteht, welche man kennen sollte und wie sie unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Verhalten beeinflussen.

 

678  Wörter / 4 Minuten Lesezeit

von | Apr. 25, 2025

Wer weiß es besser? Aus dem Alltag.
Die Diskussion ist gewohnt angeregt. Das aktuelle Thema liegt im Bereich „Allgemeines“, niemand der anwesenden Diskutanten bringt besondere Fachkompetenzen oder intensive berufliche Erfahrungen im Themenfeld mit. Zwei aus der Runde nehmen mit vollster Überzeugung gegensätzliche Positionen ein und verteidigen diese hitzig. Beide sind absolut davon überzeugt, die Situation richtig einzuschätzen und beharren auf ihrem Standpunkt. Die Emotionen gehen hoch, die Diskussionskultur ist schwierig. Wer liegt richtig? Oder liegt eventuell keiner der beiden richtig? Oder beide in Teilbereichen? 
Für die psychologischen Prozesse dahinter gibt es einige Erklärungen. 
Was versteht man unter Kognitiven Verzerrungen?
Kognitive Verzerrungen oder Cognitive Bias ist ein Begriff aus der kognitiven Psychologie (lat. cognoscere: wissen, wahrnehmen).  Generell geht es in diesem wichtigen Bereich der Psychologie um mentale Prozesse wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Sprache und Entscheidungsfindung. Der Fokus liegt darauf, wie Menschen Informationen wahrnehmen, verarbeiten, speichern und anwenden.

Kognitive Verzerrungen sind systematische Denkfehler, die unbewusst und automatisch ablaufen. Sie verzerren unsere Wahrnehmung der Realität, unsere Beurteilungen der Situation und unser Entscheidungen. Verstärkt treten sie unter Stress, Müdigkeit oder Unsicherheit auf, aber nicht nur dann.

Welche sollte man kennen und warum?
Laut John Manoogian III beispielsweise gibt es über 180 (!) kognitive Verzerrungen, bekannt als der Cognitive Bias Codex. Es handelt sich dabei um eine visuelle Darstellung in Form eines Kreisdiagramms, die unterschiedlichste Cognitive Biases kategorisiert und organisiert. Welche sind besonders weit verbreitet? Confirmation Bias, Status Quo Bias, Groupthink, False Memory Bias, Overthinking sind nur einige davon. Im oben genannten Beispiel könnten der Overconfidence Bias (Selbstüberschätzung) oder der Dunning-Kruger-Effekt relevant sein. Overconfidence Bias besagt, dass Menschen dazu neigen dazu, ihr eigenes Wissen oder ihre Fähigkeiten zu überschätzen. Beim Dunning-Kruger-Effekt (Unwissenheit in Kombination mit Selbstüberschätzung) steht im Mittelpunkt, dass Menschen mit geringem Wissen oder Kompetenz in einem Bereich ihre Fähigkeiten überschätzen, während Experten ihre eigene Kompetenz oft unterschätzen. Auch Dogmatismus könnte in Frage kommen, d.h. ein starres Festhalten an eigenen Überzeugungen und dem eigenen Weltbild. Die persönliche Perspektive kann nicht hinterfragt werden.

Warum macht es Sinn, über kognitive Verzerrung Bescheid zu wissen?

Die Relevanz von Cognitive Biases für unseren Alltag ist hoch. Wer über kognitive Verzerrungen informiert ist, kann die eigene Wahrnehmung bewusster gestalten, bessere Entscheidungen treffen und Manipulationen durch andere erkennen. Kommunikation gelingt besser, in Konflikten kann die Lösung leichter gelingen.  

 

Quelle:

Kahnemann, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken (2011)

Manoogian, John: Cognitive Bias Codex 

Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit. (1976)

David Robson: The Intelligence Trap (2019)